«Das Meer gibt alles zurück»

tpd.   Migration findet nicht nur hier statt. Sondern auch dort, von wo aus noch vor wenigen Jahrzehnten emigriert wurde. Beispiel Süditalien. Der Filmemacher Pino Esposito und der Fotograf Antonio Murgeri zeigen in dem Dokfilm «Il nuovo sud dell'Italia» Arbeits- und Lebensbedingungen derer, die am untersten Ende der sozialen Stufe leben müssen.

Auf dem Seeweg von Libyen nach Süditalien sind in den letzten zehn Jahren schätzungsweise 7000 Menschen ertrunken. Wer ohne Papiere und demzufolge ohne Namen in Süditalien ins Krankenhaus eingeliefert wird, muss bei der Polizei angezeigt werden - so will dies ein neues Gesetz. Daher meiden die Betroffenen, so weit es geht, einen Besuch im Spital. Es sind die von der Polizei abgewiesenen Einwanderer, die trotzdem bleiben. «Ich habe keinen Namen mehr» erzählt eine Stimme am Anfang des Films «Ich werde nur eine Erinnerung sein».
Wie es sich wohl anfühlt, sich auf die Reise zu machen? Und hat man das Ziel seiner Odyssee erreicht - ist man dann wirklich angekommen? Der Sprecher, ein Flüchtling, ist sich nicht sicher: Ist das jetzt Sizilien oder Kalabrien? - ich war noch nie in Italien. Wie man sich als Flüchtling fühlt, lässt sich nur erahnen. Der Film spielt Murgeris Fotografien aus Lampedusa ein. Zu sehen ist ein Friedhof für Boote aus Holz. Nussschalen, mittels derer Migranten ein anderes, besseres Leben suchten. Die Schiffe sind so alt, kaputt und zerstört wie manch ein Traum derer, die zunächst glaubten, in Europa eine bessere Zukunft finden zu können. «Ich mache soziale Fotografie», meint Antonio im Interview - «die Fotos mit den Booten sind für mich ein Symbol für die Migration». Ortswechsel. Wilde Hunde streunen am Strand. Es ist Winter in Kalabrien. Ein alter Mann spaziert in Rossano die Küste entlang - auf der Suche nach Brennholz. «Die Sturzbäche bringen alles ins Meer hinein, auch das Holz», so seine Worte. Doch der alte Mann weiss: «Das Meer bringt alles zurück». Was am Strand zu sehen ist gleicht jener Trostlosigkeit, die Einwanderer erwarten wird, wenn sie auf der Suche nach einer Perspektive in Italien ankommen. Zu sehen ist nicht nur Holz, sondern vom Meer angespülter Müll. Der Sprecher ahnt: «Keine Mutter wird am Strand auf uns warten und eine Tür aufhalten» ...

Tagelöhner

Seit den 90er Jahren ist Migration ein Thema im Land. Seitdem verändert sich etwas in Italien. Wie auch andernorts hat man es hier geschafft, eine äusserst profitable Berufsgruppe zu etablieren - die Tagelöhner. Migranten arbeiten von Montag bis Sonntag für 25 Euro am Tag - sie pflücken Mandarinen. Andere prostituieren sich. Zu diesen Arbeitsbedingungen meint ein Einwanderer aus Indien: «Das Problem ist, dass wir Geld zum Essen brauchen ...». Und wie Migranten gezwungen werden zu leben hat Antonio fotografiert. Der Film zeigt Beklemmendes: Behausungen in Kellern oder stillgelegten Industriehallen - ohne Wasser, ohne Strom, ohne Heizung - alles aus Papp-Karton. Die Slums sind wieder da. Für eine Kiste Mandarinen zahlt der Chef 1 Euro. Migranten haben keine Lobby. Keine Gewerkschaft und auch keine Unterstützung von politisch linker Seite. Denn Süditalien wird in Unterentwicklung gehalten. Angeblich braucht es diese Tagelöhner - das Totschlagargument hierfür nennt sich «Wettbewerbsfähigkeit». Die Plantagenbesitzer sehen das so. A propos Totschlag: Rassenhass ist nicht nur eine deutsche Erfindung. In Süditalien schiesst man auch gerne mal auf Schwarze. Aus fahrenden Autos zum Beispiel. Viele Betroffene meinen, hier sei es schlimmer als in Afrika. Wenn sie das gewusst hätten ...

Epositos Film informiert und rüttelt auf. Er konfrontiert uns mit einer Wirklichkeit, bei dem einem der Appetit auf Südfrüchte genauso vergeht wie ein Urlaub im «Land der deutschen Sehnsucht».   Migranten werden sehr gezielt auf die unterste soziale Stufe abgeschoben - sie sollen so arbeiten und sie sollen auch keine Rechte haben. An ihrer Arbeit verdienen andere. «Wir respektieren Italien, deswegen sind wir hier», meint ein Tagelöhner. «Aber sie behandeln uns wie Tiere. Das ist nicht gerecht.» Der Film zeigt immer wieder wilde Hunde, die sich irgendwie durchs Leben schlagen. Zu Ausschreitungen kam es dann im Januar 2010, als in Rosarno es den Arbeitern zu viel wurde. Letzten Endes mussten die Tagelöhner den Ort verlassen. Jetzt arbeiten sie irgendwo in Italien. Antonio zeigt in einer Mappe weitere Bilder seiner sozialen Fotografie. Eines zeigt Migranten unter einem Garibaldi-Denkmal. Dieser Garibaldi einte einst Italien. Antonio zeigt mit seiner Hand auf die vielen Migranten am Fuss des Denkmals. «Das sind die neuen Italiener», so der Fotograf. Es wird Zeit, dass Italien dies anerkennt.

IL NUOVO SUD DELL'ITALIA

Pino Esposito, Schweiz 2010

9. Juni, 19.00, in Anwesenheit des Regisseurs Stattkino Luzern

Film wurde in Kino RIFFRAFF und 1. Mai Fest in Zürich gezeigt.